Srila Bhaktivinoda Thakura’s

Jaiva Dharma
Die Natur der Seele

Erstes Kapitel
Das ewige und zeitweilige Dharma der Seele

>>> Zweites Kapitel


Innerhalb der irdischen Sphäre ist Jambudvipa, Pangea, am bedeutendsten. Innerhalb Jambudvipas ist das Land Bharat-varsha – Indien – herausragend und von ganz Bharat-varsha ist der Ort Gauda-bhumi – Bengalen – der erhabenste. Innerhalb Gauda-bhumis ist die Region der neun Inseln von Sri Nawadvip-mandala die bedeutendste und in dem Gebiet von Sri Nawadvip-mandala, am östlichen Ufer des Bhagirathi-Flusses, befindet sich ewiglich eine wunderschöne Ansiedlung namens Sri Godruma.

In grauer Vorzeit lebten etliche große Weise an den verschiedenen Plätzen Sri Godrumas, unentwegt in die Wonne liebender Gottesverehrung vertieft. Es war hier, wo Sri Surabhi in ihrem eigenen Kunja – einem von duftenden blühenden Kletterpflanzen überschatteten Hain – den höchsten Herrn Bhagavan Sri Gaurachandra verehrte. Unweit dieses Kunjas liegt Pradyumna-kunja. Sri Premdas Paramahangsa Babaji lebte in diesem Kunja in einer von Ranken und dichtem Laub bedeckten Hütte, wo er unablässig in die Glückseligkeit liebevoller Gottesverehrung versunken war. Er war ein Shiksha-Schüler von Pradyumna Brahmachari, einer der herausragendsten Gefährten Sri Gaurachandras.

Sri Premdas Babaji war ein hochgebildeter Gelehrter und bestens mit den Schlussfolgerungen der Shastras vertraut. Er hatte mit unbeirrbarer Überzeugung im Wald von Sri Godruma Zuflucht gesucht, da er verstand, dass Sri Godruma und Sri Nandagrama ihrem innersten Wesen nach nicht verschieden voneinander sind. Während seiner täglichen Praxis rezitierte Babaji Maharaj zweihunderttausend heilige Namen und erwies allen Vaishnavas Hunderte von Ehrerbietungen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er durch Madhukari, was bedeutet, dass er Almosen von den Häusern der Kuhhirten sammelte, so wie eine Biene Blütenstaub von einer Vielzahl von Blumen aufliest. Wann immer er neben diesen Tätigkeiten einen freien Moment fand, verbrachte er seine Zeit nicht mit weltlichem Gerede, sondern mit der Lektüre des Prema-vivarta von Sri Jagadananda Pandit, einem der vertrauten Begleiter Sri Gaurasundaras.

Zu solchen Zeiten versammelten sich die benachbarten Vaishnavas und lauschten voller Hingabe, wenn Babaji mit tränenerfüllten Augen vorlas. Warum sollten sie auch nicht kommen, um von ihm zu hören? Diese heilige Abhandlung, Prema-vivarta, ist gefüllt mit der Quintessenz bezüglich des Wesens von Rasas, transzendentaler Empfindungen. Und mehr noch, die Vaishnavas wurden von den Wogen der süßen und klangvollen Stimme des Babajis überschwemmt, welche wie ein Nektarschauer das giftige Feuer der sinnlichen Begierden in ihren Herzen löschte.

Eines Nachmittags, als Babaji Mahashaya seine Rezitation der heiligen Namen beendet hatte, las er in seiner von Madhavi- und Jasminranken beschatteten Laube im Prema-vivarta und versank in einem Meer transzendentaler Gefühle. Zu dieser Zeit näherte sich ihm ein Sannyasi, ein asketischer Mönch vom höchsten Rang, fiel ihm zu Füßen und verharrte in ausgestreckter Ehrerbietung auf dem Erdboden. Zunächst blieb Babaji Mahashaya entrückt in der Glückseligkeit seiner transzendentalen Ekstase, doch als er nach einer Weile zum äußeren Bewusstsein kam, erblickte er den erhabenen Asketen, der zu seinen Füßen lag. Da er sich für unbedeutender und geringer als einen Grashalm dünkte, fiel Babaji vor ihm nieder, begann zu weinen und rief aus: „Oh, Chaitanya! Oh, Nityananda! Bitte seid diesem gefallenen Frevler gnädig!“

Der Sannyasi erwiderte: „Prabhu, ich bin unwürdig und armselig. Warum beschämt ihr mich auf diese Weise?“

Er rieb den Staub von Babaji Mahashayas Füßen auf sein Haupt und setzte sich dann vor ihm nieder. Babaji Mahashaya bot ihm eine Sitzmatte aus Bananenbaumrinde an, setzte sich neben ihn und sprach mit einer von göttlicher Liebe stockenden Stimme: „Prabhu, welchen Dienst kann euch diese unwürdige Person erweisen?“

Der Sannyasi stellte seine Bettelschale beiseite und begann mit gefalteten Händen zu sprechen: „Oh, Meister, ich bin so unglückselig! Ich habe meine Zeit in Kashi und anderen heiligen Stätten damit verbracht, die Schlussfolgerungen der sechs philosophischen Schulen – Sankhya, Patanjala, Nyaya, Vaisheshika, Purva-mimangsa und Uttara-mimangsa – zu erörtern und ausführlich die Upanishaden und weitere Vedanta-shastras zu studieren. Vor etwa zwölf Jahren erhob mich Sri Sacchidananda Sarasvati in den Lebensstand der Entsagung. Nachdem ich so den Stab der Asketen erhalten hatte, bereiste ich alle heiligen Orte und wo immer ich in Indien wandelte, hielt ich mich in der Gesellschaft von Sannyasis auf, die der Lehre Sri Shankaras anhängen. Im Laufe der Zeit ließ ich die ersten drei Stufen des asketischen Lebens – Kutichaka, Bahudaka und Hangsa – hinter mir und erlangte den höchsten Rang des Paramahangsas, in dem ich mich seit einiger Zeit befinde. In Varanasi legte ich ein Schweigegelübde ab und fixierte mich auf jene Aussagen die Sri Shankaracharya als die Maha-vakya (Hauptlehren) der Veden proklamierte: ahang brahmasmi (ich bin Brahman), pragyanang brahma (die höchste Erkenntnis ist Brahman) und tat tvam asi (du bist das). Doch kam weder das Glück, noch die spirituelle Zufriedenheit, die ich darin zu finden hoffte.

Eines Tages jedoch hörte ich einen Vaishnava-sadhu, der laut die Spiele Sri Haris besang. Ich öffnete meine Augen und sah, dass er in Strömen von Tränen gebadet war und sich in seiner ekstatischen Verzückung seine Haare aufgerichtet hatten. Er sang die Namen `Sri Krishna Chaitanya, Prabhu Nityananda!´ mit stockender Stimme und während er tanzte, strauchelte er und fiel immer wieder zu Boden. Als ich ihn sah und seinem Gesang lauschte, wurde mein Herz von einer unbeschreiblichen Ekstase ergriffen. Obwohl diese mystische Erfahrung so überwältigend war, sprach ich ihn nicht an, da ich meinen Status als Paramahangsa wahren wollte. Oh welche Schande! Verdammt sei mein Rang und meine Stellung! Verflucht sei mein Schicksal! Ich kann es mir nicht erklären, aber seit jenem Tage fühlt sich mein Herz zu den Lotosfüßen Sri Krishna Chaitanyas hingezogen.

Wenig später überkam mich der brennende Wunsch, diesen Vaishnava-sadhu erneut zu sehen, aber ich konnte ihn nirgendwo finden. Nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares empfunden, wie diese makellose Glückseligkeit als ich ihn sah und den heiligen Namen aus seinem Munde vernahm. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass der höchste Gewinn für mich darin bestünde, bei den Lotosfüßen der Vaishnavas Zuflucht zu finden.

„Ich verließ Kashi und ging in das wunderschöne heilige Land Sri Vrindavans. Dort sah ich viele Vaishnavas, die in tief empfundener Wehmut die Namen Sri Rupa, Sanatana und Jiva Goswamis anriefen, versunken in Gedanken an Sri Radha und Krsnas Spiele. Wenn sie dann von Nawadvip sprachen, wurden sie von Ekstase überwältigt und wälzten sich im Staub.

Als ich dies sah und hörte, erwachte in mir das Verlangen, diesen wundervollen heiligen Ort von Nawadvip zu sehen. Ich umwandelte Sri Vraja-dham in seinem gesamten Umfang von zweihundertsiebzig Kilometern und erreichte erst vor wenigen Tagen Sri Mayapur. In Mayapur hörte ich euren Ruhm und daher bin ich nun hier, um bei euren Lotosfüßen Zuflucht zu suchen. Bitte macht mein Leben vollkommen, indem ihr diesen Diener zum Objekt eurer Gnade macht.“

Paramahangsa Babaji Mahashaya nahm im Gefühl tiefer Demut einen Grashalm zwischen seine Zähne und schluchzte: „Oh, Sannyasi Thakur, ich bin vollkommen nutzlos. Ich habe mein Leben damit verschwendet, mir den Bauch vollzuschlagen, zu schlafen und wertlose Gespräche zu führen. Zwar habe ich mich an dem heiligen Ort niedergelassen, an dem Sri Krishna Chaitanya verweilte, doch die Tage verstreichen und ich bin unfähig, das was als Krishna-prema beschrieben wird, zu kosten. Ihr seid so gesegnet, denn ihr habt diese göttliche Liebe erfahren, lediglich durch den flüchtigen Anblick eines Vaishnavas. Ihr habt die Gnade Krishna Chaitanyas empfangen. Ich wäre ewig dankbar, wenn ihr so gütig wäret euch für einen Augenblick an dieses arme Wesen zu erinnern, während ihr diese Prema kostet, denn dann wird mein Leben erfolgreich sein.“

Während er so sprach, umarmte der Babaji den Sannyasi und badete ihn mit seinen Tränen. Als Sannyasi Maharaj auf diese Weise von der Gestalt eines Vaishnavas berührt wurde, erlebte er in seinem Herzen eine nie dagewesene Glückseligkeit. Nun weinte auch er, begann zu tanzen und während er tanzte, sang er:

jaya shri krishna-chaitanya shri prabhu nityananda
jaya premadasa guru jaya bhajanananda

“Alle Ehre sei Sri Krishna Chaitanya und Prabhu Nityananda. Alle Ehre sei meinem heiligen Meister Premdas und der Wonne liebender Gottesverehrung.”

Premdas Babaji und Sannyasi Maharaj tanzten lange und sangen die Heiligen Namen. Als sie sich beruhigt hatten, begannen sie über Verschiedenes zu sprechen. Schließlich bat Premdas Babaji äußerst demütig: „Oh Mahatma, große Seele, bitte bleibt noch ein paar Tage hier im Pradyumna-kunja um mich zu läutern.“

Der Sannyasi erwiderte: „Ich habe mein Selbst euren Lotosfüßen dargebracht. Warum sprecht ihr nur von wenigen Tagen? Ich bete inständig darum, euch den Rest meines Lebens dienen zu dürfen.“

Sannyasi Thakur war ein in allen Schriften bewanderter Gelehrter. Er wusste nur zu gut, dass der Guru einen ganz von selbst anleiten wird, wenn man sich in seiner Nähe aufhält. Daher ließ er sich voller Freude in dem Hain nieder.

Nach einigen Tagen sprach Paramahangsa Babaji zu dem erhabenen Sannyasi: „Oh Mahatma, Sri Pradyumna Brahmachari hat mir in seiner unendlichen Gnade Zuflucht bei seinen Lotosfüßen gewährt. Gegenwärtig lebt er im Dorf Sri Devapalli am Rande von Sri Nawadvip-mandala, wo er in die Verehrung Sri Nrisinghadevas vertieft ist. Heute, nachdem wir Almosen gesammelt haben, wollen wir dorthin gehen um den Darshan seiner Lotosfüße zu erhalten.“
Sannyasi Thakur antwortete: „Ich werde tun was immer ihr von mir wünscht.“

Ungefähr zwei Stunden nach Mittag setzten sie über den Fluss Alakananda und gelangten nach Sri Devapalli. Als sie vom Suryatila-Hügel herabstiegen, erblickten sie die Lotosfüße des Gefährten von Sri Chaitanya Mahaprabhu, Sri Pradyumna Brahmachari, der sich im Tempel Sri Nrisinghadevas aufhielt. Noch aus der Ferne fiel Paramahangsa Babaji zur Erde, um seinem Guru in lang ausgestreckter Ehrerbietung zu huldigen. Pradyumna Brahmachari trat aus dem Tempel und sein Herz schmolz vor Zuneigung zu seinem Schüler. Mit beiden Händen half er Paramahangsa Babaji auf, umarmte ihn, erquickt mit göttlicher Liebe und erkundigte sich dann nach dessen Wohlergehen. Nachdem sie einige zeitlang über spirituelle Dinge gesprochen hatten, stellte Paramahangsa Babaji seinem Guru den Sannyasi vor. Pradyumna Brahmachari sprach mit großer Achtung: „Mein geschätzter Bruder, du hast in Premdas einen höchst qualifizierten Guru gefunden. Du solltest unter seiner Anleitung das Buch Prema-vivarta studieren.“

kiba vipra kiba nyasi shudra kene naya
jei krishna-tattva-vetta sei guru haya

(Chaitanya-charitamrita, Madhya 8.128)

“Unabhängig davon, ob jemand Brahmana, Sannyasi oder Shudra ist, wenn er die transzendentalen Wahrheiten bezüglich Sri Krishna kennt, kann er Guru werden.”

Sannyasi Thakur verneigte sich demütig vor den Lotosfüßen seines Param-gurus und sprach: „Prabhu, ihr seid ein Gefährte von Sri Chaitanya, und ihr könnt Hunderte von hochmütigen Sannyasis wie mich allein durch euren barmherzigen Blick läutern. Bitte schenkt mir eure Gnade.“

Sannyasi Thakur hatte zuvor keine Erfahrungen bezüglich des Verhaltens zwischen Vaishnavas. So erkannte er das respektvolle Verhalten, das er zwischen seinem Guru und seinem Param-guru beobachtete, als die angemessene Umgangsform an die er selbst befolgen sollte; und von diesem Tag an verhielt er sich dementsprechend gegenüber seinem Guru, frei von jeglicher Falschheit. Nachdem die Abend-arati vorüber war, kehrten der Guru und sein Schüler nach Sri Godruma zurück.

Sannyasi Thakur hatte nun einige Zeit in dem Kunja verbracht und war er bestrebt von Paramahangsa Babaji spirituelle Wahrheiten zu erfahren. Mittlerweile zeigte der Sannyasi alle Merkmale eines Vaishnavas, nur sein äußeres Gewand war geblieben. Im Laufe seiner früheren spirituellen Praxis hatte Sannyasi Thakur jene Eigenschaften entwickelt die mit Gleichmut (sama), sowie der vollständigen Beherrschung von Geist und Sinnen (dama) verknüpft sind und war fest auf der transzendentalen Ebene des nicht-dualen, alldurchdringenden Absoluten verankert (brahma-nishtha). Darüber hinaus hatte er nun unerschütterliches Vertrauen in die transzendentalen Spiele von Parabrahma Sri Krishna erworben und war zutiefst demütig geworden.

Eines Morgens, nachdem Paramahangsa Babaji vor Tagesanbruch sein Bad vollzogen hatte, saß er im Madhavi-Hain und rezitierte die heiligen Namen Haris, während er sie auf seiner Gebetskette mitzählte. Zu dieser Zeit offenbarte sich in seinem Herzen allmählich das Nishanta-lila (die transzendentalen Spiele kurz vor der Morgendämmerung) des göttlichem Liebespaares Sri Sri Radha und Krishna. Da dies die Zeit ist, zu der Sri Sri Radha und Krishna voneinander scheiden und den Kunja verlassen, um zu ihrem jeweiligen Heim zurückzukehren, fühlte Paramahangsa Babaji großen Trennungsschmerz und Tränen der Liebe strömten unaufhörlich aus seinen Augen. Während er in Meditation über dieses Spiel versunken war, vertiefte er sich innerlich mit seiner vollendeten seelischen Gestalt in dem dieser Tageszeit angemessenen Dienst; somit war er sich seines physischen Körpers nicht mehr bewusst. Sannyasi Thakur war von dem Zustand in dem sich Babaji befand vollkommen gefesselt, setzte sich zu ihm und beobachtete seine Sattvika-bhavas (transzendentale Symptome der Ekstase).

Plötzlich sprach Paramahangsa Babaji zu ihm: „Oh Sakhi, bring Kakkhati (Srimati Radhikas Äffin) auf der Stelle zum Schweigen, sonst wird sie Radha-Govinda aus Ihrem himmlischen Schlummer erwecken; dies würde Lalita-sakhi bekümmern und sie veranlassen mich zu tadeln. Sieh nur! Ananga Manjari gibt dir ein Zeichen, dies zu tun. Du bist Ramana Manjari, und dies ist der Dienst, für den du bestimmt bist. Sei daher in dieser Hinsicht achtsam!“

Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, schwanden Paramahangsa Babaji die Sinne. Von diesem Augenblick an widmete sich Sannyasi Maharaj, der nun seine spirituelle Gestalt und Identität kannte, entsprechend seiner hingebungsvollen Meditation. Langsam brach der Tag an und das Morgenlicht verbreitete seinen Glanz über den östlichen Himmel. In allen Richtungen begannen Vögel wohlklingend zu zwitschern und es wehte eine sanfte Brise. Die außergewöhnliche Schönheit des Madhavi-Haines im Pradyumna-kunja, erhellt von den rötlichen Strahlen der aufgehenden Sonne, war unbeschreiblich.

Paramahangsa Babaji saß auf einer Matte aus Bananenbaumrinde. Als er allmählich sein äußeres Bewusstsein wiedererlangte, fasste er erneut seine Gebetskette und rezitierte die heiligen Namen. Sannyasi Thakur verneigte sich daraufhin mit ausgestreckten Ehrerbietungen vor den Füßen Babajis, setzte sich zu ihm und sprach in tiefer Demut mit gefalteten Händen: „Prabhu! Oh Meister, diese gefallene Seele möchte euch eine Frage stellen. Bitte seid so gütig und besänftigt mein gequältes Herz mit eurer Antwort. Möge es euch erfreuen, dieses Herz, welches im Feuer des Brahma-gyan (Erschauens des unpersönlichen, gestaltlosen, eigenschaftslosen Absoluten) verdorrte, mit Vraja-rasa zu füllen.“

Babaji antwortete: „Ihr seid ein würdiger Zuhörer. Welche Fragen ihr mir auch stellt, ich werde sie beantworten, soweit ich dazu in der Lage bin.“

Sannyasi Thakur sprach: „Prabhu! Seit langem habe ich von der Bedeutsamkeit von Dharma gehört. Bei zahllosen Gelegenheiten habe ich so vielen Menschen die Frage gestellt: `Was ist Dharma?´, doch ihre Antworten widersprachen sich. Es bedrückt mich. Bitte sagt mir, was ist das wahre wesensgemäße Dharma der Lebewesen? Und warum erklären verschiedene Lehrer die Natur von Dharma auf so unterschiedliche Weise? Wenn es nur ein Dharma gibt, warum kultivieren dann nicht alle gebildeten Lehrer dieses eine universelle Dharma, welches ohne ein Zweites ist?“

Paramahangsa Babaji gedachte der Lotosfüße von Bhagavan Sri Krishna Chaitanya und begann zu sprechen: „ Oh, höchst Gesegneter! Ich werde euch die Prinzipien von Dharma erläutern, soweit es mein Verständnis erlaubt. Ein Objekt wird Vastu genannt und seine ewige Natur Nitya-dharma. Die Natur ergibt sich aus der elementaren Struktur eines Objekts. Wenn durch Krishnas Wunsch ein Objekt Form annimmt, ist eine spezifische Natur als konstant begleitende Erscheinung seiner Struktur inhärent. Diese Natur ist das Nitya-dharma des Objekts.

Die Natur eines Objekts wird verändert oder verzerrt, wenn eine innere Veränderung in ihm stattfindet; sei es durch die Kraft der Umstände oder durch den Kontakt mit anderen Objekten. Im Laufe der Zeit verhärtet sich diese verzerrte Natur und erscheint dauerhaft zu sein, als ob sie die wahre Natur dieser Sache wäre. Diese verzerrte Natur ist nicht die Svabhav (die ureigene Natur); sie wird Nisarga genannt, jene Natur, die durch langfristigen Umgang angenommen wurde. Diese Nisarga nimmt den Platz der tatsächlichen Natur ein und wird daraufhin für die Svabhav (wesensgemäße, innere Natur) gehalten.

Zum Beispiel ist Wasser ein Objekt und seine Svabhav ist es flüssig zu sein. Wenn Wasser aufgrund bestimmter Umstände zu Eis gefriert, nimmt die erworbene Eigenschaft der Festigkeit den Platz der eigentlichen Natur ein. In Wirklichkeit ist diese erworbene Natur nicht ewig, sondern umstandsbedingt und zeitweilig. Sie taucht aus einem bestimmten Grund auf, und wenn dieser Grund nicht länger auf das Objekt einwirkt, verschwindet diese erworbene Natur ganz von selbst. Die Svabhav hingegen ist unauslöschlich. Sie mag zwar verzerrt werden, doch bleibt sie immer untrennbar mit ihrem Objekt verbunden. Die ursprüngliche Natur wird mit Sicherheit wieder sichtbar werden, sobald der richtige Zeitpunkt und die geeigneten Umstände eintreten.

Die Svabhav einer Sache entspricht seinem Nitya-dharma (ewigen Wesen), während es sich bei der erworbenen Natur um sein Naimittika-dharma (zeitweiliges Wesen) handelt. Jene, die über wahre Kenntnis von Objekten verfügen, können das ewige vom zeitweiligem Wesen unterscheiden, wohingegen jene, denen dieses Wissen fehlt, die erworbene Natur für die wahre Natur halten und folglich das zeitweilige Dharma fälschlicherweise mit dem ewigen Dharma verwechseln.“

„Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Vastu und was ist die Bedeutung von Svabhav?“, fragte Sannyasi Thakur.

Paramahangsa Babaji antwortete: „Das Wort Vastu leitet sich von der Sanskrit-Wurzel vas ab, welche `existieren´ oder auch `verweilen´ bedeutet. Durch Anhängen der Nachsilbe -tu wird das Verb zum Nomen. Daher bedeutet Vastu, ‘das, was existiert beziehungsweise was in sich selbst wahrnehmbar ist´. Es gibt zwei Arten von Vastu: vastava und avastava. Der Begriff Vastava-vastu (wirkliches, unvergängliches Objekt) bezieht sich auf das, was in der Transzendenz gründet. Zu den illusionären, zeitweiligen Objekten, Avastava-vastu, gehören Dravya (materielle Elemente), Guna (materielle Eigenschaften wie Sattva, Raja und Tama) und so weiter. Wirkliche Objekte sind von ewiger Existenz. Zeitweilige Objekte besitzen lediglich den Anschein von Existenz, der sich manchmal als real und manchmal als trügerisch erweist. Im Srimad-Bhagavatam (1.1.2) heißt es:

vedyang vastavam atra vastu shivadam

“Nur das wirkliche und höchstes Glück verheißende Objekt, ist es wert, verstanden zu werden.”

Von dieser Aussage ist zu schließen, dass ein wirkliches und unvergängliches Objekt in Bezug zur höchsten Transzendenz steht. Sri Bhagavan ist das einzige wirkliche Objekt (Vastava-vastu). Die Seelen oder Lebewesen (Jivas) sind seine eigenständigen und individuellen Teilchen, während Maya, die Materie beziehungsweise Illusion, seine Energie ist. Daher bezieht sich das Wort Vastu auf drei fundamentale Prinzipien: Bhagavan, Jiva und Maya. Die Erkenntnis um die wechselseitigen Beziehungen zwischen diesen drei Prinzipien wird als reines Wissen (Shuddha-gyan) bezeichnet. Es gibt unzählige scheinbare Repräsentationen dieser drei Prinzipien und sie werden alle als Avastava-vastu (illusionäre Objekte) betrachtet. Die Einteilung von Phänomenen in verschiedene Kategorien wie Dravya (materielle Elemente) und Guna (materielle Eigenschaften), wie sie von der Vaisheshika-Schule vorgenommen wird, stellt lediglich eine Betrachtung der Natur zeitweiliger Objekte (Avastava-vastu) dar.

Das kennzeichnende Merkmal eines wirklichen, unvergänglichen Objektes besteht in seiner tatsächlichen Natur. Der Jiva ist ein reales Objekt, und sein ewiges charakteristisches Merkmal ist seine wahre Natur.“

Sannyasi Maharaj sagte: „Prabhu, ich möchte dieses Thema vollkommen verstehen.“

Darauf antwortete Babaji Mahashaya: „Srila Krishnadasa Kaviraja Gosvami, der die Gnade Sri Nityananda Prabhus empfangen hatte, zeigte mir sein, von eigener Hand geschriebenes Manuskript. In diesem Werk, Sri Chaitanya-charitamrita, hat uns Sriman Mahaprabhu zu diesem Thema wie folgt belehrt:

jivera svarupa haya krishnera nitya-dasa
krishnera tatastha-shakti bhedabheda-prakasha

(Chaitanya-charitamrita, Madhya 20.108)

“Die wesensgemäße Natur des Jivas ist es, ein ewiger Diener Sri Krishnas zu sein. Der Jiva entspringt der marginalen Energie Krishnas und ist eine Manifestation, die gleichzeitig eins mit Ihm und verschieden von Ihm ist.”

krishna bhuli sei jiva anadi-bahirmukha
ataeva maya tare deya sangsara-duhkha

(Chaitanya-charitamrita, Madhya 20.117)

“Der Jiva, welcher Krishna vergessen hat, beschäftigt sich seit unvordenklichen Zeiten mit der äußeren Energie. Folglich bereitet ihm Krishnas trügerische Energie (Maya) Leiden in Form des materiellen Daseins.”

Krishna ist das vollständige transzendentale Objekt (Chid-vastu). Er wird häufig mit der Sonne des spirituellen Reichs verglichen und die Jivas mit den winzigen Lichtteilchen in den Strahlen dieser Sonne. Es gibt unzählige Jivas. Wenn gesagt wird, sie seien individuelle Teile Krishnas, bedeutet das nicht, dass sie wie die Steine sind, aus denen ein Berg besteht. Obwohl unzählige Jivas als Teilchen von Sri Krishna von Ihm ausströmen, verringert Er sich dadurch nicht im geringsten. Aus diesem Grund vergleichen die Veden die Jivas in einem Aspekt mit den Funken die von einem Feuer ausgehen. In Wahrheit kann jedoch kein angemessener Vergleich angestellt werden. Kein Gleichnis – ob nun die Funken eines lodernden Feuers, winzige Teilchen in den Strahlen der Sonne oder unendliche Mengen Gold, die mithilfe eines mystischen Juwels gewonnen werden – ist vollkommen zutreffend. Wenn man jedoch über die irdischen Unvollkommenheiten dieser Vergleiche hinwegsehen kann [und nur den entscheidenden Aspekt der jeweiligen Analogie betrachtet], offenbart sich die wahre Natur des Jivas leicht im Herzen.

Krishna ist das grenzenlose spirituelle Objekt (Brihat-chid-vastu), wohingegen ein Jiva ein winziges, begrenztes spirituelles Objekt (Anu-chid-vastu) ist. Die Einheit von Krishna und den Jivas besteht in ihrer spirituellen Natur (Chid-dharma), jedoch sind sie zweifellos auch verschieden voneinander, denn Er ist vollständig, während sie fragmentarisch sind. Krishna ist der ewige Herr und die Jivas sind die ewigen Diener Krishnas. Dies ist ihre wechselseitige, natürliche Beziehung.
Krishna ist der Anziehende, während die Jivas angezogen werden. Krishna ist der höchste Herrscher, und die Jivas werden beherrscht. Krishna ist der Beobachter, und die Jivas werden beobachtet. Krishna ist das vollständige Ganze, während die Jivas schwach und unbedeutend sind. Krishna besitzt alle Macht, und die Jivas sind machtlos. Daher ist Krishna-dasya, Krishna ergeben zu dienen, die ewige, wahre Natur (Svabhav) beziehungsweise Bestimmung (Dharma) des Jivas.

Krishna ist mit unbegrenzten Energien oder Mächten ausgestattet. Seine vollumfängliche Macht (Purna-shakti) wird durch die Manifestation der spirituellen Welt, Chit-jagat, wahrgenommen. In ähnlicher Weise beobachtet man Seine marginale Energie (Tatastha-shakti) in der Manifestation der Jivas. Diese außergewöhnliche Energie sorgt auch für das Zusammensetzen der zeitweiligen, unvollkommenen Welt. Das Werk dieser marginalen Potenz besteht darin, Wesen (Vastu) hervorzubringen, die sich zwischen den lebenden (Chid-vastu) und den leblosen Objekten (Achid-vastu) befinden und eine Beziehung sowohl mit der spirituellen als auch mit der materiellen Welt unterhalten können. Rein transzendentale Wesen sind von Natur aus das genaue Gegenteil von leblosen Objekten und haben daher keinerlei Verbindung zu ihnen. Obwohl der Jiva ein lebendiges spirituelles Teilchen ist, kann es eine Beziehung zu lebloser Materie aufbauen. Dies wird durch den Einfluss der Aishi-shakti ermöglicht, einer göttlichen Energie, die man auch als die voran genannte Tatastha-shakti kennt.

Der Grenzbereich zwischen dem Wasser eines Flusses und dem Land wird Tata oder Ufer genannt. Dieses Tata kann sowohl als Wasser wie auch als Land betrachtet werden; mit anderen Worten, es gehört beiden an. Die göttliche Aishi-shakti, die sich in diesem Grenzbereich befindet, enthält beide Eigenarten in Einem, die von Wasser und die von Land. Die Natur des Jiva ist spirituell, doch ist er so beschaffen, dass er von der leblosen materiellen Natur beherrscht werden kann. Daher ist der Baddha-jiva, die bedingte Seele, nicht jenseits jeglicher Verbindung mit der Materie, im Gegensatz zu den Jivas des spirituellen Reichs. Nichtsdestoweniger unterscheidet er sich von dumpfer Materie durch seine lebendige, spirituelle Natur. Da der Jiva von Natur aus sowohl von den rein spirituellen Wesen, als auch von dumpfer Materie verschieden ist, betrachtet man den Jiva als ein separates Prinzip. Aus diesem Grund muss das ewige Verschiedensein von Bhagavan und dem Jiva anerkannt werden.

Bhagavan ist der uneingeschränkte Herrscher über Maya, Seine äußere, illusionierende Energie, die sich vollständig unter Seiner Kontrolle befindet. Der Jiva hingegen kann unter bestimmten Umständen unter die Herrschaft von Maya geraten, da er ihrem Einfluss unterliegt. Infolgedessen sind diese drei Prinzipien — Bhagavan, Jiva und Maya — real und ewig. Von diesen dreien ist Bhagavan das höchste ewige Prinzip und bildet das Fundament für die übrigen. Die folgende Aussage der Sri Katha Upanishad (2.2.13) bestätigt dies:

nityo nityanang

“Er ist der höchste Ewige unter allem was ewig ist.”

Der Jiva ist von Natur aus sowohl ein ewiger Diener Krishnas als auch ein Ausdruck Seiner marginalen Energie. Dies zeigt, dass sich der Jiva von Bhagavan unterscheidet, auch wenn er gleichzeitig eins mit Ihm ist. Somit handelt es sich also um eine Manifestation, die gleichzeitig verschieden und nicht verschieden (Bhedabhed-prakash) ist. Der Jiva ist der Herrschaft Mayas unterworfen, wohingegen Bhagavan der Herrscher und Gebieter Mayas ist. Hierin besteht ein ewiger Unterschied zwischen dem Jiva und Bhagavan. Andererseits sind sowohl der Jiva, wie auch Bhagavan von ihrer Veranlagung her transzendentale Wesen (Cid-vastu). Darüber hinaus ist der Jiva eine besondere Potenz Bhagavans. Hierin besteht die ewige Verbindung zwischen diesen beiden. Wo ewiges Verschiedensein und das ewige Nichtverschiedensein gleichzeitig existieren, ist das ewige Verschiedensein kennzeichnend.

Das Nitya-dharma des Jivas ist es Krishna zu dienen. Wenn er dies vergisst, wird er von Maya bezwungen, und ist von diesem Augenblick an von Krishna abgewandt. Der Fall des Jivas in diese Welt geschieht nicht unter dem Einflussbereich der materiellen Zeit. Dementsprechend verwendet man den Begriff Anadi-bahirmukh, was bedeutet, dass die Abgewandtheit des Jivas anfangslos ist. Sobald sich der Jiva von Sri Krishna abwendet und in Maya eintaucht, wird sein Nitya-dharma verzerrt. Daher entwickelt der Jiva durch den Kontakt mit Maya eine erworbene Natur (Nisarga), die es ihm somit ermöglicht, zeitweilige Veranlagungen und Eigenschaften, Naimittika-dharma, zu entwickeln. Das Nitya-dharma (die ewige Natur) ist eins, unteilbar und unter allen Umständen makellos; doch das Naimittika-dharma (die zeitweilige Natur) nimmt vielfältige Formen an, verändert sich unter verschiedenartigen Umständen und wird von Menschen mit voneinander abweichenden Anschauungen auf vielerlei Weise ausgelegt.“

Nachdem Paramahangsa Babaji so gesprochen hatte, hielt er inne und begann die heiligen Namen zu rezitieren. Als Sannyasi Thakur diese Erläuterung der spirituellen Wahrheiten vernommen hatte, verneigte er sich mit ausgestreckten Ehrerbietungen und sagte: „Prabhu, ich werde heute über all diese Dinge nachdenken, und morgen werde ich die Fragen die sich daraus ergeben euren Lotosfüßen vorlegen.“

HIER ENDET DAS ERSTE KAPITEL DES JAIVA-DHARMA MIT DEM TITEL
„DAS EWIGE UND DAS ZEITWEILIGE DHARMA DER SEELE“


übersetzt von: Akilesh Prabhu & Braj Balla Devi
überarbeitet von: S.G. Chandra

>>> Zweites Kapitel

Jaiva Dharma - Kapitel Eins

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